Rituale

Aufgewacht gegen 6:00 Uhr. Er hat keine Motivation, der Körper streikt. Er bleibt liegen. Schläft wieder ein und wird von einem Traum wach.

Sie und er sind in einem Lager. Sie teilen einen Schlafraum mit Matratzen auf dem Boden, mit zehn anderen. Beide gehen zur Veranstaltungen, sind aber nie zusammen.

Jeder bewegt sich vom anderen getrennt auf dem Gelände und er empfindet im Traum keine Verbundenheit.

Erinnerungen an einen Festabend in der Hauptstadt kommen real hoch.

Dort sind sie als Paar im Traum angemeldet, doch verlieren sie sich. Er findet sie nicht mehr und von seinem Suchen wird er wach. 

Er bleibt noch zwei Stunden im Bett. Liest Nachrichten, surft im Internet, planlos und haltlos.

Orientierungslos trifft es am Besten.

Das Gefühl ist ihm sehr vertraut. Nach intensiver einwöchiger Nähe und Intimität plötzlich ein verbaler, nonverbaler, körperlicher und visueller Abbruch, der ihn ins bodenlose stürzen lässt.

Diesmal noch mit der besonderen Note und veränderten Konstellation, dass sie seit Sonntag Abend keinen Kontakt mehr haben.

Kein „Gute Nacht“ am Telefon und kein „Guten Morgen“ per WhatsApp.

Zwei Rituale die ihm immer Halt und Orientierung. Besser gesagt, Sicherheit gaben. Er verflucht die Entscheidung.

Die Situation macht ihn wütend. Wütend auf sich, auf sie und auf die Umstände. Vor allem darauf, dass sie diese, beide, künstlich herbei geführt haben.

Wozu dieser ganze Spuck? Sie lieben sich doch. Was hat sie beide bloß veranlasst, diese Entscheidung zu treffen. Allein gelassen werden macht ihn sehr wütend.

„In die Augen kann man fast jedem sehen. Aber jemand zu finden, der die selbe Welt sieht, ist vermutlich ziemlich selten.“

Todes-Sehnsucht

„Wie schwer du an und in mir ruhst, jetzt, da du nicht mehr bist“, schreibt Michaux.

Er bekommt Lust aufzugeben. Eine Lust die mit ihm lebt, die neben ihm geschlafen hat, seit dem Tag, da seine Mutter starb. Er kann nichts mit dieser Lust anfangen, außer in sie zu versinken.

Er fällt ins Bodenlose, wird von dieser Lust in die Tiefe gezogen, taucht unter, folgt ihr, die ihm das Leben geschenkt hat.

Sie hat ihm auch den Tod dagelassen.

Er folgt, taucht tief ein, bis etwas in ihm umkehrt und sie ihm entgleitet.

Er steht abrupt auf, betritt den Boden unter seinen Füßen, zieht den Rolladen hoch.

Licht dringt hinein in den Raum der von einem Bett und einem Schreibtisch dominiert wird.

Mehr brauche ich nicht. Ich habe Lust zu leben.

Allen Veränderungen, selbst jenen

die wir ersehnt haben, haftet etwas 

melancholisches an; denn wir lassen

einen Teil von uns selbst zurück;

Wir müssen in einem Leben sterben, 

ehe wir ein anderes beginnen können.

Anatole France

Kopf-Penetration

In seinem Kopf penetrierte sie ihn seit Tagen. Sie wollte einfach nicht gehen. Dauerpenetration, in manchen Augenblicken hätte er am liebsten seinen eigenen Kopf vom Rumpf gerissen.

Wegreißen. Damit endlich Ruhe ist. Ruhe. Du penetrierst mich auch so heftig, weil ich seit Tagen mit mir und mit dir alleine bin.

Selbstgewählte Isolation, wenn Sie geht, dann geht auch er immer wieder in die Isolation.

Heute Morgen hat er das auf dem Weg zum Strand förmlich gespürt. Da ist was sehr frühes. Eine vorsprachliche Isolation, die entweder zur Lähmung oder zur Aggitation und Panik führt.

Nach dem Frühstück ist er auf das Zimmer, hat ein paar Zeilen geschrieben und sich dann auf´s Bett gelegt mit einem Buch.

Nach vier Seiten legte er es zur Seite. Er hatte das Gefühl sterben zu wollen. Sein Blick schweifte aus dem Fenster auf den klaren blauen Himmel und er hoffte einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.

Einschlafen. Wenige Minuten später sank er in einen unruhigen Schlaf. Als ob alle Kraft und Energie ihn verlassen hatte. Erschöpft wachte er nach zwei Stunden wieder auf vom Saugen- und Putzen der Reinigungskräfte.

Die Lust das Leben fahren zu lassen hatte ihn übermannt. Benommen stand er auf, packte ein paar Sachen in den Rucksack, um anschließende zum Meer zu laufen.

Unterwegs der Gedanke, beim Abschied nicht zu viele Sachen da zu lassen, die den Angehörigen nur Scherereien bringen würden.

Also das Geld für die Rückführungskosten, Sarg und Auto, dafür konnte er vorsorgen. Mit dem Zug anreisen und die Asche hier verstreuen lassen wäre vermutlich das einfachste für alle gewesen.

Misslungene Unabhängigkeit

„Lieber eine gelungene Abhängigkeit, 
als eine misslungene Unabhängigkeit.“
Bernd Schmid

Ein  misslungener Versuch. Ab heute wollte er so tun, als ob sie beide sich endgültig getrennt haben.

Das Gegenteil wird der Fall sein. Sie ist mittlerweile minütlich in seinen Gedanken und es ist egal ob es Tag oder Nacht ist.

Ständig ist er innerlich bei ihr und dabei entfernt er sich von sich selbst. Alles verschwimmt und macht ungute Gefühle. Nebel zieht in ihm auf, umgibt ihn.

Seiner und ihrer Intuition will er vertrauen, fühlt sich aber schwach und hoffnungslos.

Wo wird das hinführen?

Am Morgen hat er es nicht mehr ausgehalten. Er hat ihr am Ostersonntag geschrieben, gegen die gemeinsame Abmachung:

„Christus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden für Dich.“

Keine Vorstellung hatte er sich vorab davon gemacht, wie sie darauf reagieren wird.

Noch bevor er das Smartphone zur Seite legt, kommt ihre Antwort: „Und für Dich.“

Nach einer Woche ein erster Kontakt. Aus den wenigen Worten kann er nichts heraus spüren oder erahnen. Doch die umgehende Reaktion von ihr lässt ihn hoffen, dass sie ihn weiterhin liebt.

Er sehnt sich nach ihr.

Vergegnender Abschied

Ein Vater. Sein Gesicht hat sich an einen Ort zurückgezogen den der Sohn nicht kennt.

Jetzt fällt sein Gesicht dem Sohn entgegen. Der Sohn kauert auf dem Boden des Kuhstalls. Vor ihm liegt die Kreidler seines Nachbarn. Der Nachbar hat sie ihm verkauft. Ein rotes Mofa.

Sein Gesicht ist voller Trauer, der letzte Funke Freude über die Kreidler und die neu gewonnene Freiheit, entweichen aus ihm. Alles in ihm gefriert beim Anblick seines Vaters. Der Vater blickt von oben auf ihn herab. Er kauert vor der Kreidler. Putzt die verchromten Teile an ihr, blank.

Menschen sind nicht schön im Tod.

Der Vater fragt ihn: „Willst Du Dich von Mama verabschieden. Sie stirbt jetzt?“

Er kann nichts sagen. Sein Hals und sein Kopf haben keine Blutzufuhr mehr. Alles ihn ihm scheint für den Augenblick gefroren.

Er schüttelt wild und schmerzverzehrt den Kopf. Presst die Lippen aufeinander. Schaut unter sich. Schaut den Vater nicht mehr an. Spürt in seinen Gliedern, Adern, an seinem gesamte Körper den Schmerz. Er will schreien, toben, rennen, weg von diesem Ort.

Der Vater dreht sich um, dreht sich weg von ihm. Im kurzen Blick vom Boden unten auf dem er zusammen sinkt, richtet sich für eine Sekunde noch einmal der Blick in Richtung seines fortgehenden Vaters. Er sieht seine Schultern. Sein gesamter Körper ist eingefallen.

Gebeugt geht er am Brenner der Heizung vorbei, vier Stufen nach unten, an der Werkbank mit dem Schraubstock entlang, zehn Stufen hoch, schließt die Tür hinter der Kellertreppe.

Der Vater macht hinter der Keller einen Schritt im Flur nach rechts. Dort in das umgebaute Wohnzimmer, dass seit einigen Wochen als Schlafzimmer fungiert und in dem jetzt die sterbende Ehefrau und Mutter die letzten Atemzüge macht.

Die langjährige Hausärztin sitzt am Bettrand. Sie hat in den letzten Stunden ununterbrochen Schmerzmittel gespritzt in den Körper der Mutter gespritzt, um ihr das Sterben zu erleichtern.

Der Vater setzt sich neben seine Frau auf´s Bett, während der Sohn einen Stock auf dem Kuhstallboden liegt und bereit ist, seiner Mutter es gleich zu tun und mit ihr zu sterben.

Der Vater nimmt die Hand der Mutter und spürt, wie sie die letzten Atemzüge macht, bevor ihre Augen sich für immer schließen werden.

Er hat keine Ahnung, wie lange er auf dem Stallboden gelegen hat. Er hat auch keine Ahnung, wo seine Schwester in den vergangen Stunden sich aufgehalten hat. Ob sie in den letzten Lebensminuten ihrer Mutter, bei ihr gesessen hat.

Er setzt sich auf. Setzt sich neben seine Kreidler. Er ist vor zwei Wochen 15 Jahre alt geworden. Spätestens in diesem Augenblick wird immer einen Teil in ihm in Starre und Einsamkeit vor sich hin vegetieren.

Auch mehr als 30 Jahren später, kann er sich nicht erinnern, was danach passiert ist. Wo er hingegangen ist. Ob er damals den Weg nach oben geschafft hat? Ob er auf dem Kuhstallboden weinend eingeschlafen ist und am nächsten morgen wieder aufwachte? 

An diesem Abend im Oktober 1986 hatte der Nebel ihn vollends umschlossen. Sichtweite, keine Hand breit und seit dem hatte sich der Nebel auch nie wirklich völlig aufgelöst.

An dem Tag der Beerdigung, drei Tage später, beginnen seine Erinnerungen wieder.

Seiner Schwester hatte er damals das Versprechen abgerungen, dass sie in der Kirche nicht weinen sollte. Doch als der Pfarrer den Namen seiner Mutter ausspricht, fängt er hemmungslos an, zu weinen und zu schreien.

Die gesamte Trauerzeremonie hindurch wird er nicht damit aufhören. Einzelne Teilnehmer können sein Weinen und sein Geschrei nicht aushalten und verlassen fluchtartig die Kapelle.

Rennen raus an die Luft, um sich Luft zu verschaffen. Sein unbändiger Schmerz dringt ihnen durch Mark und Bein.

Er wird sich erst beruhigen, als sie den Friedhof mit dem abgesenkten Sarg verlassen.

Wenn er liebt, dann liebt er leidenschaftlich. Seine Mutter ist tot. Und ein Teil von ihm, sagt seine Therapeutin Jahre später, ist mit ihr in das Grab gestiegen und dort geblieben.

„Scherz ist die drittbeste Tarnung.

Die zweitbeste ist Sentimentalität.

Die beste aber ist immer noch die blanke nackte Wahrheit.

Die glaubt niemand.“

Max Frisch