Vergegnender Abschied

Ein Vater. Sein Gesicht hat sich an einen Ort zurückgezogen den der Sohn nicht kennt.

Jetzt fällt sein Gesicht dem Sohn entgegen. Der Sohn kauert auf dem Boden des Kuhstalls. Vor ihm liegt die Kreidler seines Nachbarn. Der Nachbar hat sie ihm verkauft. Ein rotes Mofa.

Sein Gesicht ist voller Trauer, der letzte Funke Freude über die Kreidler und die neu gewonnene Freiheit, entweichen aus ihm. Alles in ihm gefriert beim Anblick seines Vaters. Der Vater blickt von oben auf ihn herab. Er kauert vor der Kreidler. Putzt die verchromten Teile an ihr, blank.

Menschen sind nicht schön im Tod.

Der Vater fragt ihn: „Willst Du Dich von Mama verabschieden. Sie stirbt jetzt?“

Er kann nichts sagen. Sein Hals und sein Kopf haben keine Blutzufuhr mehr. Alles ihn ihm scheint für den Augenblick gefroren.

Er schüttelt wild und schmerzverzehrt den Kopf. Presst die Lippen aufeinander. Schaut unter sich. Schaut den Vater nicht mehr an. Spürt in seinen Gliedern, Adern, an seinem gesamte Körper den Schmerz. Er will schreien, toben, rennen, weg von diesem Ort.

Der Vater dreht sich um, dreht sich weg von ihm. Im kurzen Blick vom Boden unten auf dem er zusammen sinkt, richtet sich für eine Sekunde noch einmal der Blick in Richtung seines fortgehenden Vaters. Er sieht seine Schultern. Sein gesamter Körper ist eingefallen.

Gebeugt geht er am Brenner der Heizung vorbei, vier Stufen nach unten, an der Werkbank mit dem Schraubstock entlang, zehn Stufen hoch, schließt die Tür hinter der Kellertreppe.

Der Vater macht hinter der Keller einen Schritt im Flur nach rechts. Dort in das umgebaute Wohnzimmer, dass seit einigen Wochen als Schlafzimmer fungiert und in dem jetzt die sterbende Ehefrau und Mutter die letzten Atemzüge macht.

Die langjährige Hausärztin sitzt am Bettrand. Sie hat in den letzten Stunden ununterbrochen Schmerzmittel gespritzt in den Körper der Mutter gespritzt, um ihr das Sterben zu erleichtern.

Der Vater setzt sich neben seine Frau auf´s Bett, während der Sohn einen Stock auf dem Kuhstallboden liegt und bereit ist, seiner Mutter es gleich zu tun und mit ihr zu sterben.

Der Vater nimmt die Hand der Mutter und spürt, wie sie die letzten Atemzüge macht, bevor ihre Augen sich für immer schließen werden.

Er hat keine Ahnung, wie lange er auf dem Stallboden gelegen hat. Er hat auch keine Ahnung, wo seine Schwester in den vergangen Stunden sich aufgehalten hat. Ob sie in den letzten Lebensminuten ihrer Mutter, bei ihr gesessen hat.

Er setzt sich auf. Setzt sich neben seine Kreidler. Er ist vor zwei Wochen 15 Jahre alt geworden. Spätestens in diesem Augenblick wird immer einen Teil in ihm in Starre und Einsamkeit vor sich hin vegetieren.

Auch mehr als 30 Jahren später, kann er sich nicht erinnern, was danach passiert ist. Wo er hingegangen ist. Ob er damals den Weg nach oben geschafft hat? Ob er auf dem Kuhstallboden weinend eingeschlafen ist und am nächsten morgen wieder aufwachte? 

An diesem Abend im Oktober 1986 hatte der Nebel ihn vollends umschlossen. Sichtweite, keine Hand breit und seit dem hatte sich der Nebel auch nie wirklich völlig aufgelöst.

An dem Tag der Beerdigung, drei Tage später, beginnen seine Erinnerungen wieder.

Seiner Schwester hatte er damals das Versprechen abgerungen, dass sie in der Kirche nicht weinen sollte. Doch als der Pfarrer den Namen seiner Mutter ausspricht, fängt er hemmungslos an, zu weinen und zu schreien.

Die gesamte Trauerzeremonie hindurch wird er nicht damit aufhören. Einzelne Teilnehmer können sein Weinen und sein Geschrei nicht aushalten und verlassen fluchtartig die Kapelle.

Rennen raus an die Luft, um sich Luft zu verschaffen. Sein unbändiger Schmerz dringt ihnen durch Mark und Bein.

Er wird sich erst beruhigen, als sie den Friedhof mit dem abgesenkten Sarg verlassen.

Wenn er liebt, dann liebt er leidenschaftlich. Seine Mutter ist tot. Und ein Teil von ihm, sagt seine Therapeutin Jahre später, ist mit ihr in das Grab gestiegen und dort geblieben.

„Scherz ist die drittbeste Tarnung.

Die zweitbeste ist Sentimentalität.

Die beste aber ist immer noch die blanke nackte Wahrheit.

Die glaubt niemand.“

Max Frisch

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